Manchmal wird das Leben

gerade dort besonders tief und wesentlich,

wo wir durch Krisen gehen.

Christian ist im März 2000 an einem Ewing Sarkom (bösartiger Tumor) erkrankt. Bei einer schwierigen Operation hatte man ihm die zwei untersten Rippen an der linken Seite, einen Teil vom Zwerchfell, einen Teil der Lunge und Weichteilgewebe entfernt. Nach der Chemo- und Strahlentherapie galt er im Sommer 2001 als „geheilt“. Als ich Christian 2000 kennen lernte, hatte er gerade seine Chemotherapie hinter sich.

Nach seinem Umzug von Augsburg nach Mainz musste er für die Nachunter-suchungen natürlich auch das Krankenhaus wechseln. Chris musste zweimal im Jahr zur Kontrolle und so auch im Januar 2002. Man war sich nicht sicher, ob das auf dem CT Bild bei der Kontrolluntersuchung wirklich ein Tumor war. Am 16.Januar 2002, einer der schwärzesten Tage in diesem Jahr, hatten wir dann die Gewissheit: es war wirklich ein Rezidiv (Rückfall). Christian hatte mich vormittags vom Krankenhaus aus angerufen. Was er da noch nicht wusste: Ich hatte an diesem Morgen erfahren, dass eine sehr gute Freundin von mir mit der Diagnose „Leukämie“ im Krankenhaus liegt.

So hatten 2 Monate voller Hoffnungen und Enttäuschungen begonnen. Wir wussten nicht, wie es nun weitergehen würde? Fängt alles wieder von vorne an?? Operation??... Chemotherapie??... Bestrahlung??... Wir konnten nur abwarten zu welcher Behandlung sich die Ärzte entscheiden würden. Nach ein paar Tagen teilte man uns mit, dass eine Operation zu riskant wäre und man damit nicht den gewünschten Erfolg erzielen würde. Man hätte drei Wirbel entfernen müssen.

Die Ärzte in der UNI Klinik Frankfurt haben es sich nicht leicht gemacht, und ich weiß auch, dass sie sehr viel für Christian getan haben und alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen haben, doch manchmal soll es eben nicht sein.

Am 13.März 2002 haben wir erfahren, dass man nichts mehr für Christian tun konnte. Mittlerweile hatte er 4 Tumore im 1.-3.Lendenwirbel und einen im Weichteilgewebe. Wie ich später erst herausgefunden habe, bestehen bei einem Ewing Sarkom allgemein keine großen Heilungschancen. Das hatte man uns aber nie gesagt. Ich hatte Christian von der Arbeit aus angerufen. Eigentlich wollte er mir diese Nachricht nicht am Telefon mitteilen, aber ich habe ihm angemerkt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist und so lange nachgebohrt, bis er es mir dann doch erzählte. Für mich ist in dem Moment eine Welt zusammen gebrochen. So schnell ich konnte bin ich von der Arbeit aus nach Frankfurt gedüst. Ich bin total verheult dort angekommen. Zu meiner Überraschung wirkte Christian sehr gefasst und hat eher mich getröstet als umgekehrt. In diesem Moment hätte ich es eher ertragen, wenn ich diese Nachricht bekommen hätte. Wir haben an diesem Abend sehr viel über das Sterben und das Leben nach dem Tod geredet. Er hatte nur Angst davor gehabt, dass seine Familie, Freunde und ich ihn irgendwann vergessen könnten, wenn er nicht mehr lebt.

Wenige Tage später hatten wir wieder neue Hoffnung. Unsere Hausärztin hat uns von einer BioMed Klinik in Bad Bergzabern erzählt und ehe wir uns versahen, saßen wir in dieser Klinik. Da die Schulmedizin am Ende war, versuchten wir es nun mit alternativen Heilmethoden. Ich muss noch dazu sagen, dass ich ein absolut positiv denkender Mensch bin, an Wunder glaube und so schnell die Hoffnung nicht aufgebe.

Am 26.März 2002 bekamen wir jedoch einen deftigen Dämpfer. Der Tumor hat den Nerv von seinem rechten Bein regelrecht abgequetscht, sodass er kein Gefühl mehr in seinem Bein hatte und es auch nicht mehr belasten konnte. Da das Krankenhaus in Bad Bergzabern für solche Fälle nicht gerüstet war, musste Christian nach Frankfurt verlegt werden. Außerdem mussten noch neurologische Untersuchungen gemacht werden, wofür die BioMed Klinik ebenfalls nicht ausgestattet war.

Durch das viele Morphium, was er gegen die Schmerzen bekommen hatte, bekam Christian von den ersten Tagen in der UNI Frankfurt gar nichts mit. Ich hatte - was ein Glück - die Möglichkeit gehabt, Tag und Nacht bei ihm zu sein, und so haben wir genauso wie den Valentinstag, unseren Jahrestag, auch Ostern im Krankenhaus verbracht. Als er eine Woche später entlassen wurde, ging es im Rollstuhl weiter. Es war nicht so einfach gewesen, ihn in dieser Zeit bei Laune zu halten. Was ein Glück lag unsere Wohnung im Erdgeschoss und war sehr geräumig, sodass er mit dem Rolli überall gut hinkam.

Ich kann mich noch gut daran erinnern wie wir einmal in Mainz den Domplatz überquert haben. Der Platz ist leicht abschüssig, worüber ich echt glücklich war, weil ich Christian schon den ganzen Tag kreuz und quer durch die City geschoben hatte. Ein Rollstuhl kann auf die Dauer echt schwer werden, vor allem wenn man ihn über etliche Bürgersteigkanten etc... drüber hieven muss. Ich habe dann zu ihm gemeint, dass er mich ja auch mal ein Stück mitnehmen könnte, jetzt wo es bergab ging... Auf seinen Schoß konnte ich mich nicht setzten, das hätte ihm zu weh getan. Also habe ich mich gegen die Fahrtrichtung mit den Oberschenkeln rechts und links auf die Armlehnen gesetzt, und so sind wir dann quer über den Platz gefahren. Die Leute um uns herum haben richtig blöd geguckt und wir haben uns nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Wir hatten lauter Blödsinn im Kopf. Christian konnte schon nach relativ kurzer Zeit mit dem Rolli auf 2 Rädern fahren und hat jedem, der uns besuchen kam, seine neusten Kunststücke vorgeführt.

Am 8.Mai war es dann vorbei mit dem Rolli. Von da an hatte er auch in seinem linken Bein kein Gefühl mehr, und seine Rückenschmerzen wurden auch zunehmend schlimmer, sodass er von diesem Zeitpunkt an ans Bett gefesselt war. Er hat ziemlich schnell abgebaut, und schon allein wenn ich ihn gewaschen habe, war das für ihn total anstrengend gewesen. Gegessen hatte er auch nichts mehr, und so hat er sehr schnell abgenommen. Am Anfang ist es ihm sehr schwer gefallen mit dieser neuen Situation umzugehen. Christian war ein Mensch, der immer anderen geholfen hat. Wenn jemand in seiner Familie oder in seinem Freundeskreis Hilfe brauchte, hat Christian alles stehen und liegen gelassen, um zu helfen. Um so schwerer ist es ihm gefallen, jetzt selbst auf Hilfe anderer angewiesen zu sein.

Meine Eltern haben uns in dieser Zeit echt super unterstützt. Meine Mutter geht nur einen halben Tag arbeiten, und so hat sie nach Feierabend jeden Tag bei Christian vorbeigeschaut. Ich bin immer erst Nachmittags von der Arbeit heimgekommen. Ich muss noch dazu sagen, dass unsere Wohnung bei meinen Eltern im Haus war. Also war es für meine Mutter kein riesiger Umweg bei Christian vorbeizuschau´n.

Unsere Hausärztin, eine super liebe Frau, kam 1-2 mal in der Woche vorbei um nach Christian zu sehen. Zu dieser Zeit bekam er schon eine ziemlich hohe Dosis Morphium um wenigstens schmerzfrei zu sein. Wir konnte die Schmerzpflaster mit dem Morphin selbst dosieren, je nachdem wie viel Christian brauchte.

In den letzten 2 Monaten vor seinem Tod kam 1 mal täglich ein Pflegedienst vorbei um seinen Dikubitus am Steißbein zu behandeln. Ein Dikubitus ist eine offene Wunde die durch langes Liegen entstehen kann. Christian konnte zu dieser Zeit nur noch auf dem Rücken und auf der Seite liegen. Sitzen ging gar nicht mehr, und die Sehnen in seinen Beinen haben sich durch das ständige Liegen verkürzt, sodass er seine Beine nicht mehr ausstrecken konnte. Es hatte ewig gedauert bis wir ein Krankenbett und eine Wechseldruckmatratze für Christian bekamen. Eine Wechseldruckmatratze kann man sich so ähnlich wie eine Luftmatratze vorstellen mit ganz vielen einzelnen Luftkammern. Die verschiedenen Kammern werden immer abwechselnd mit Luft aufgepumpt (wechselt ca. alle 15 Minuten). Dadurch soll vermieden werden, dass der Patient sich wund liegt, was bei Christian leider schon zu spät war, aber wenigstens ist es durch die Matratze nicht noch schlimmer geworden.

Ich habe mich in dieser Zeit oft gefragt, wie es sein wird, wenn Christian stirbt? Muss er ganz alleine in einem dunklen Krankenhauszimmer sterben oder darf er zu Hause sein? Kann ich bei ihm sein, kann ich ihm die Hand halten? Wird er von seinen letzten Tagen noch etwas mitbekommen, oder braucht er bis dahin so viel Morphium, dass er total abwesend ist? Diese Fragen sind mir oft durch den Kopf gegangen. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass er zu Hause sterben kann und ich bei ihm sein darf.

In diesen Wochen habe ich mich auch mit dem Thema aktive Sterbehilfe beschäftigt. Aktive Sterbehilfe ist die Tötung eines anderen Menschen entsprechend seinem Willen. Im Unterschied zu anderen Formen der Sterbehilfe besteht aktive Sterbehilfe in einer aktiven Handlung die darauf abzielt , den Tod herbeizuführen. In Deutschland ist diese Art der Sterbehilfe verboten.

Was sollte ich tun, wenn Christian mich fragt, ob ich ihm beim sterben helfe? Kann man das für jemanden tun den man liebt? Ist das Mord? Wir wussten, dass es mit dem Tod enden wird, dass es absolut keine Chance auf Heilung gab, aber auf der anderen Seite macht man sich strafbar, wenn man einem Menschen aktiv dabei hilft sein Leben zu beenden, egal in welcher Lebenssituation sich der andere befindet.

Zu dieser Zeit wurde vor dem Europäischen Gerichtshof ein sehr bekannter Fall verhandelt indem eine junge, unheilbar kranke Engländerin erreichen wollte, dass ihr Mann ihr aktiv beim sterben helfen darf ohne dass dieser dafür bestraft wird. Die Klage wurde damals abgewiesen.

Wir haben nie über dieses Thema geredet und Christian hat mich auch nie danach gefragt. Er hatte aber gewusst wie ich mich entschieden hätte. Diejenigen, die mich kennen wissen auch wie ich damals gehandelt hätte und der Rest kann es sich vielleicht denken, wenn er am Ende dieser Homepage angelangt ist...

Es war in der letzten Maiwoche, als unsere Hausärztin wieder einmal zu einem Hausbesuch bei uns war. Sie wollte uns unseren katholischen Pfarrer vorbeischicken, damit er Christian seelsorgerisch betreut. Davon abgesehen, dass ich mit diesem Mann auf Kriegsfuß stehe und er sowieso nie die Chance gehabt hätte unsere Wohnung zu betreten, wollte Christian auch keinen Besuch von ihm haben. Seine Antwort weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen. Er hat gesagt:“Ich bin neuapostolisch, und wenn jemand von der Kirche mich besuchen kommt, dann nur von der Neuapostolischen Kirche!“ Ich wusste zwar schon lange, dass Christian neuapostolisch war, aber er bzw. wir waren noch nie gemeinsam in einem Gottesdienst seit wir uns kannten. Er hatte mir zwar schon einiges davon erzählt, und in Augsburg kamen wir auch einmal an einer neuapostolischen Kirche vorbei, aber von diesem Glauben hatte ich vorher noch nie etwas gehört und so wusste ich auch nicht, wo bei uns in der Nähe eine NAK (Abk. für Neuapostolische Kirche) war. Also habe ich das Telefonbuch herausgekramt und in der nächst größeren Stadt (Bingen) nach einer NAK gesucht und bin auch tatsächlich fündig geworden. Die Ärztin und ich haben dann beide am nächsten Tag versucht jemanden unter dieser Nr. zu erreichen. Da ich zu diesem Zeitpunkt absolut keine Ahnung hatte wie diese Kirche organisiert ist, habe ich es den ganzen Tag von der Arbeit aus probiert. Natürlich erfolglos. Abends bekam wir dann ein Anruf von unserer Hausärztin. Sie wollte uns nur mitteilen, dass sie einen Bezirksältesten Ackerschewski erreicht hat, der sich in den nächsten Tagen bei uns melden will. Am gleichen Abend, gegen 21:00 Uhr, bekamen wir dann ganz überraschend noch Besuch von Wolfgang Ackerschewski. Von da an haben wir zweimal in der Woche Besuch von Amtsträgern der NAK (Bezirksältester Wolfgang Ackerschewski, dem Hirten und Vorsteher Gunter Sandt und dem Evangelisten Robert Weiske) bekommen. In dieser Zeit habe ich auch meinen ersten Gottesdienst erleben dürfen (am 09.06.). Ich muss schon sagen, dass der Gottesdienst mich echt umgehauen hatte. Zuvor hatte ich ein eher gespaltenes Verhältnis zur Kirche gehabt. Ich war bis dato absolut davon überzeugt, dass man nicht in die Kirche gehen muss, um an Gott zu glauben. Und nun kam ich aus diesem Gottesdienst heraus und wusste, dass das mein Weg ist. Ich habe dort sehr viel Kraft für unseren Alltag mitbekommen. Mir war bis dahin nicht bewusst, dass ein Gottesdienst so tief gehen kann und man so viel für das tägliche Leben mitnehmen kann. Ich finde es heute immer noch erstaunlich, wenn ich an diesen Tag und dieses Erleben zurückdenke. Obwohl ich nie bewusst nach meinem Glauben oder einer Glaubensgemeinschaft gesucht habe, war mir ab dieser Stunde klar, dass ich neuapostolisch werden will und den lieben Gott enger in mein weiteres Leben einbeziehen möchte. Diese Entscheidung kam von Herzen und ich weiß, dass ich sie nie bereuen werde.

Die 4.Strophe aus dem Lied 368 aus unserem neuapostolischen Gesangbuch hat Christian sich oft durchgelesen. „Leiden macht im Glauben gründlich, macht gebeugt, barmherzig, kindlich. Leiden, wer ist deiner wert? Hier heißt man dich eine Bürde, droben bist du eine Würde, die nicht jedem widerfährt.“

Am Abend des 07.07.2002 hatte Christian ganz plötzlich wahnsinnige Schmerzen bekommen. Es war ein Sonntag, und er wollte absolut nicht, dass ich unsere Hausärztin anrufe, und so habe ich ihm alle möglichen Schmerzmittel gegeben die ich finden konnte. So schlimm wie an diesem Abend war es noch nie. Christian hat sogar geschrieen vor Schmerzen (das hat er sonst nie gemacht). Also habe ich mich zu ihm ans Bett gesetzt, seine Hand gehalten und gehofft und gebetet, dass es bald vorüber ist und die Schmerzmittel endlich wirken. Das ist so ein beschissenes Gefühl absolut nichts tun zu können. Meine Eltern kamen sogar vorbei, weil sie Christians Schreie gehört hatten. Nach einer halben Stunde haben die Schmerzen nachgelassen und er konnte ein wenig schlafen. Das ganze Morphium hatte ihn total müde gemacht.

Als er wieder aufwachte ging es ihm wieder besser und die Schmerzen waren vergessen. Wir haben ein bisschen mit meiner Schwester und meiner Mutter rumgealbert, die noch mal vorbeikamen und später hat Christian noch mit seinen Eltern telefoniert.

An diesem Abend haben wir noch sehr viel geredet über alles mögliche. Er hat sich dann ganz lieb von mir verabschiedet, bevor er friedlich und schmerzfrei eingeschlafen ist.

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